Eine Würdigung von Leben und Werk der Autorin Elke Erb (1938-2024) anlässlich der XXI. Weimarer Lyriknacht am 8. November 2024 im Stellwerktheater Weimar.
„Ich hoffe, Sie ertragen mich!“ sagt Elke Erb zu Beginn ihrer Lesung auf der Leipziger Buchmesse 2014. Ihre funkelnde, hellwache Klugheit, ihre Selbstironie ist auch zehn Jahre später beim Hören der Aufnahme offenkundig.
es sei wie es will //
ich höre nicht auf mich zu wundern: gleite jetzt wieder die
weile / ab in den schlaf und über- // lasse mich dem – dennoch bekannten aspektwechsel
um die drei ecken / die ihre stockwerke stapeln // kleinstädtisch einem bleichen
reizlosen jenseitslicht. gleichwohl: / wundert es mich.
1991 erscheint bei Reclam der Band Nachts, halb zwei, zu Hause mit Texten aus drei Jahrzehnten. Er beginnt mit den Eifel-Erinnerungen:
…dort wäre ein Gewächshaus entstanden, Wunderding in der armen, steinigen Eifel, müsste Papa nicht Soldat sein… Wir holten das Heu von der Wiese herein… Wir gingen…für unsere Ziege Hafer klauen, für unsere ewig meckernde Ziege, sie hieß Lim… Mama, ist der Russe ein Mann?… Ein Kind, das weit in die Welt hineingeht, erwartet das Wunder. … Wenn wir das Echo rufen, ist es das Wunder.
Geboren und aufgewachsen in Scherbach in der Eifel, geht die Elfjährige 1949 mit der Mutter nach Halle an der Saale, wo der vermisst geglaubte Vater Arbeit hat. Im Germanistikstudium fühlt sie sich nicht wohl, studiert Geschichte und Pädagogik, arbeitet als Lektorin und entscheidet sich 1966 für eine Existenz als freie Schriftstellerin, ohne dass schon eine Zeile von ihr gedruckt ist. Es entstehen erste Kontakte zu Sarah und Rainer Kirsch, zu Adolf Endler, Karl Mickel und Erich Arendt. Letzterer erkennt ihr Talent: „Ich begrüße die neue Sonne am Horizont.“ Mit dem Kollegen wird sie zehn Jahre verheiratet sein und einen Sohn haben. 1975 erscheint ihr erstes Buch „Gutachten. Poesie und Prosa“ in der Edition Neue Texte. Ihr eigenwilliger Ton ist gesetzt:
Ein Lamm weidete,
hatte geweidet in Holland,
Krieg war, mein Vater Soldat.
Kam auf Urlaub,
trug kein Lamm, trug das Fell,
trug nicht das Lamm.
Ich sitze am Schreibtisch, ich stell
meine Füße darauf.
Elke Erb bringt sich auf ihre kompromisslose, streitbare Weise in die Lyrikdebatten der schwierigen 60er und 70er Jahre ein und gilt schnell als regimekritisch. Dass auch Wagenbach und die Deutsche Verlagsanstalt ihre Texte veröffentlichen, macht es nicht einfacher.
1985 gibt sie gemeinsam mit dem schillernden, später als Doppelagenten enttarnten Sascha Anderson eine aufsehenerregende Lyrik-Anthologie heraus: Berührung ist nur eine Randerscheinung, die tatsächlich nur bei Kiepenheuer&Witsch erscheint und die avantgardistische Literatur des Prenzlauer Bergs erstmals im Westen bekannt macht. Diese Textsammlung ist einer der wichtigsten Markierungspunkte in der Lyrikgeschichte der DDR. Ohne die literarischen Offensiven Elke Erbs hätte dieser Akt der Auflösung von Konventionen in der ostdeutschen Lyrik wohl nie die ihm eigene Dynamik erreicht.
Im Aufbau Verlag erscheinen weitere wichtige ihrer Bände: Der Faden der Geduld, Vexierbild und 1988 ihr wohl berühmtestes: Kastanienallee, für den sie den Peter Huchel Preis erhält und der sie endgültig als deutsche Dichterin von Rang ausweist.
Mit Kastanienallee etabliert sie auch ihre Verfahrensweise, den Gedichten Kommentare beizugeben, die einerseits den Prozess des Schreibens spiegeln, seine Initialzündungen, seine Volten, andererseits fast unmerklich in eigene, ausufernde poetische Texte münden – eine poetische Selbsterkundung par excellence!
Dazu ein Ausschnitt aus dem Gedicht Mündig und den zugehörigen Kommentar:
Die Tränen der Plattform,
ehe sie verlaufen,
reden mit mir: wie die Meinung
mich reute.
…
Tränen und Berg und Tal.
Ehe sie verlaufen,
die Tränen der Plattform
reden mit mir wie die Leute.
… Ein paar Tage später traf mich ein Telefonanruf in Tränen an. Die andere Stimme sagte: Geh zu anderen Leuten, sprich mit Leuten, und ich antwortete: Aber die Tränen reden doch mit mir.
… Die Assoziation „Berg und Tal“ war schon da, schon unter den Augen, während ich diese Antwort gab (ablas vom Wirklichen). Zugleich auch die Leute: im Dunkeln, ein Gedränge eiliger dunkler Leute am Feierabend auf den Bürgersteigen, mit regem, beeifertem, zutunlichem Sinn. Es regnete.
Warum – Berg und Tal? Die Landschaft sprach beruhigend die zurückgeholte Würde aus…
Für den späteren Dichter Jan Kuhlbrodt war wiederum Vexierbild ein Erweckungserlebnis: Die Texte stellten stets aufs Neue eine Unvoreingenommenheit in mir her, und das wollte in der von Gewissheiten überschütteten DDR-Kultur etwas heißen. Sie waren frisch, und ihre Ecken waren alles andere als klassisch rund. Es waren Sprachinseln, Wachstumsinseln.
Auch im vereinigten Deutschland veröffentlicht Elke Erb Band um Band, erst bei wechselnden Verlagen, ab 1998 vor allem bei Urs Engeler, dessen Unangepasstheit ihr entspricht.
Ihre ungeheure Produktivität, die Fülle an poetisch verhandeltem Material speist sich aus den ständigen Denk – und Beobachtungsprozessen, die ihr natürlich sind, aus der Lust am Spielen mit Assoziationsfeldern und Gedankenbewegungen, einem geistigen Atmen, dem bei Elke Erb immer eine Poesie an sich innewohnt. Vor mir / das noch nicht entwirrte / Wegenetz eines Gedankengangs.
Von Beginn an wechseln dabei ständig die Gattungen, gehen die Formen ineinander über, werden Fließtexte, gebundene Verse oder entgrenzen sich zu aufgebrochenen Satzstrukturen, deren Sinn entschlüsselt werden will.
Wenn es entwirrt ist, / ist der Gedankengang am Ziel. / Er erschafft die Wege, / die er geht / Er erschafft sich. / Er erschafft ein Wegenetz. / Er erschafft, der noch nicht ist, / ein noch nicht entwirrtes Wegenetz. / Zu seinem ersten Schritt / nimmt er sich selbst vorweg…
Das Denken sieht sich selbst zu und beschreibt dieses Zusehen. Das ist gleichwohl herausfordernd für den Leser, verlangt ein Sich Einlassen, eine Anstrengung und ja, auch eine Lust am MitDenken. Sie selbst nennt es für sich prozessuales Schreiben: Dieses Schreiben war Handeln, nicht: Darstellen, Bereitstellen, Feststellen. Die Text-Art hat keinen Namen unter den üblichen. Ich habe mich dafür entschieden, sie eine prozessuale Erörterung zu nennen… Unter Erörterung verstehe ich ein Gehen von Ort zu Ort, ein Orte Erkennen, Aufsuchen, Erwandern, Durchwandern. (in Der wilde Forst, der tiefe Wald, 10.12.2017, Planet Lyrik online)
Genau das, sage ich, wäre Poesie, eine Suchbewegung, ein inneres Gehen, das seinen eigenen Prämissen folgt, die sich im Gehen erst zeigen. Gleichwohl nicht gesichtslos, gespeist aus sinnlicher Erfahrung, aus Erinnerungsräumen, Begegnungen, Lebensstoffen, aus dem Kanon der Dichtung.
Das Gedicht Mitteilen beschreibt sehr schön den Vorgang, wie sich Elke Erb das Poetische einfängt:
Schneide ich etwa Feenfleisch aus / und lege es auf die Teller? // Und wird es von Feenfüchsen / im hindernislosen Mondlicht // (die auf Stühle springen / am runden Tisch, bei Messer und Gabel / aufs weiße Tischtuch die vorderen / Füße aufstützen) // beschnuppert, bevor meinesgleichen daran kaut?
Auch auf die auf die Sisyphosarbeit des Übersetzens läßt sie sich von Anfang an mit unermüdlicher Geduld ein: Blok, Pasternak, Zwetajewa, Ungaretti… später kommen der russisch-deutsche Autor und Übersetzer Oleg Jurjew und seine Frau, die Dichterin Olga Martynowa hinzu, mit beiden ist Elke Erb eng befreundet.
Die Kunst – Last, auszutragen, die die Schultern drückt.
Und doch . Wie halten wir, die Dichter, uns im Schweben
von Bagatellen, die das Leben tauscht, entzückt.
…Alexander Blok, Juni 1909, Foligno
Eine weitere Wegmarke ist der Band Gänsesommer 2005. Aus dem Titelgedicht, von der Dichterin Emily Dickinson inspiriert:
…Morgenlicht, Schlafzimmer, Spiegel,
du stehst vor dem Spiegel, Triptychonspiegel
oben im Schlafzimmer, kleidest dich, in etwas Feines,
auf den Dielen zwischen dem Bett und dem Spiegel
stehst du in Spiegelleere –
oder Kirschblüten-Weiß
auf den schlafwarmen Leib, die reine
Bluse, die weiße …
Ich erkenne das Frösteln, nicht meins,
wie das zarte, angelegte Gewebe,
wie Hemd, Bluse, Mieder,
ausschaut, den Tod sieht,
erkenne ich wieder, Kleid oder Tau.
…
Elke Erb war, ist und bleibt ausgeflippt, dem Teufel sei’s gedankt, hat der Dichter Bert Papenfuß erklärt. Man muss Papenfuß oder seine Texte nicht mögen, aber hier hat er ohne Zweifel recht. Sie schert sich nicht um den Literaturbetrieb, bei dem sie als anstrengend und eigensinnig gilt und wird in den Jahrzehnten nach der Wende von zwei Generationen viel jüngerer Dichter und Dichterinnen heiß geliebt. Monika Rinck, Steffen Popp, Ulf Stolterfoht und andere hat sie entdeckt und gefördert.
Auch wenn viele namhafte Preise vorangegangen sind – 2020 wird sie endlich mit dem Büchner Preis geehrt, sie ist 82 Jahre alt und wird noch vier Jahre leben.
Friederike Mayröcker, mit der sie eine lange Freundschaft verbindet, schreibt ihr: Liebe Elke, meine lunatische Dichterin – große Freundin – viele Deiner Gedichte hätte ich selbst gerne geschrieben. Sei umarmt und beglückwünscht von Deiner alten Friederike.
In der Preisverleihung durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung heißt es, für Erb sei Poesie eine politische und höchst lebendige Erkenntnisform.
Ich bin außerhalb der Form, sagt Elke Erb selbst. Und das ist eine Chance und ein Risiko. Die Menschheit geht mit mir ein Risiko ein, ich diene als Risiko.
Und doch, glaube ich, verbirgt sich hinter diesem Selbstverständnis eine große Verletzlichkeit. In ihrer Berliner Rede zur Poesie – Das Gedicht ist, was es ist von 2018 taucht ein frühes Traumgedicht auf:
(6.10.79)
Ich gehe auf einen Weg, er glänzt,
aber ich habe zu wenig mitgenommen…
Ich kehre zurück mit jener Reue,
in der man wieder alles lieb haben will…
Um es
noch mehr zu verlieren,…
die schwärzesten Schrecken, atmen
die Liebe.
Sentiment wird gut versteckt. Sie bleibt selbstironisch, funkelnd klug, hellwach.
Ich lag und sann, da kamen Kram-Gedanken, heißt es in Idyll.
Natürlich ist es recht, den Kram im Kopf zu haben. / So hältst die Sterne du in ihren Bahnen. / Statt aus der Welt heraus zu existieren/ und fremd zu sein wie dir mehr als den Tieren. / Laß deinen Kram wie Himmelskörper strahlen und denke dir zum Abschluß Brombeerranken.
Elke Erb stirbt im Januar 2024, kurz vor ihrem 86. Geburtstag.
es sei wie es will // ich höre nicht auf mich zu wundern.