„In herzlicher Eile! Ihr Sebastian Schopplich“

Ein Beitrag zur Reihe „Bruchstellen“ des Thüringer Literaturrates.
Für die 2023 entstandene Reihe „Bruchstellen – eine literarische Bestandsaufnahme“ bat der Thüringer Literaturrat neun Autorinnen und Autoren aus Thüringen, Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft zu porträtieren. Nicht zuletzt sollte damit der Frage nachgegangen werden, in welcher Gesellschaft wir leben wollen und welche Rolle Kultur für uns und unsere Gesellschaft spielt.

Erstdruck (in gekürzter Fassung) in: Thüringische Landeszeitung, 10.1.2024.

 

keinen schatten werfen / auf andere
Im schatten der anderen / leuchten 
(Reiner Kunze, »silberdistel«)

 Als ich in den Hof im winzigen, zur Ortslage Brahmenau gehörigen Dörfchen Groitschen einbiege – »den Berg hinauf, gleich neben der großen Salweide«  – ist von Eile keine Spur. Der Klang der in einem Glockenstuhl im Scheunenfachwerk hängenden Bronzeglocke empfängt mich. Sie stammt, wie mir Sebastian Schopplich geradewegs berichtet, aus einem Einödhof in Oberbayern und wurde 1866 in der Weilheimer Gießerei Kennerknecht gegossen.

Hier oben, am »Ende der Welt«, ist über die Jahre hinweg ein Refugium entstanden, eine Oase, behutsam saniert und liebevoll gepflegt, wie viele Details zeigen. Bei den Bauarbeiten finden sich slawische Scherben, die Terrasse säumt eine Mauer aus Pölziger Sandstein, in den großen Töpfen gedeihen Oleander und Agapanthus; Walnuss, Birke, Holunder umwachsen den Ort.

Schnell sind wir im Gespräch, das den wachen, aufgeschlossenen, den freien Geist verrät. Zu allem, was ich entdecke, kann Schopplich eine Geschichte erzählen, kennt er historische oder geographische Zusammenhänge; Bildung ist für ihn lebendiges, am Objekt geschultes Wissen, ein Fundus, aus dem er schöpft und den er beständig erweitert.

Wir folgen seinen Lebenslinien: 1966 geboren, wächst der Junge anfangs – weil die Mutter studiert – bei der Großmutter auf: eine Villa auf dem Weißen Hirsch, vier Meter hohe Räume, die Dresdner Heide fast vor der Haustür. Auch in Radeberg, wo er zehn Jahre zur Schule geht, wird am Waldrand gewohnt, ist die Natur sein Spielort, entfaltet sich der Sinn für »Vögel, Schlangen, Schmetterlinge, die Geräusche des Windes«, der Regentropfen in den wehenden Zweigen – eine Erdung, die ihn seither trägt.

Dem Direktor des Radeberger Heimatmuseums Rudolf Limpach hat er viel zu verdanken: wenn der Schüler mit seinen Funden kommt, bronzezeitliche Scherben, Tonpfeifenstücke, Musketenkugeln, nimmt dieser sich Zeit: gemeinsam erforschen sie Fundplätze und Details, datieren und recherchieren. Sebastian Schopplichs Traum ist es, Geschichte zu studieren. Auf der Oberschule in Bischofswerda steht das Fach Biologie im Mittelpunkt; die historischen Botanikbände der Bibliothek werden zur spannenden Lektüre.

An den Wochenenden geht es in die Sächsische Schweiz, in die Affensteine zum Bergsteigen; von den vier Gefährten ist er der Ungeduldigste. Noch kann er es nicht formulieren, aber die Unrast wird bleiben, das Gefühl, tätig sein zu MÜSSEN, um den Verwerfungen und Schnelllebigkeiten der Zeit etwas Sinnvolles, Tragfähiges entgegenzusetzen: Kunst, Kultur, Landschaftspflege. Und Mitmenschlichkeit.

Nach dem Schulabschluss arbeitet er noch im Pflegeheim in Schönborn, dann muss die Armeezeit überstanden werden. Auch da ist ihm Literatur Über-Lebens-Mittel; als Kind liest er unter der Bettdecke die Smaragdenstadt – Bände Alexander Wolkows; in den Sammelsurien der Großmutter finden sich Dr. Faustus und Lotte in Weimar – letzteres wird sein Lieblingsbuch. Er schult sich an Arnold und Stefan Zweig, durchforstet Lexika – hier wurzelt seine Lesebesessenheit, seine Lust am akribischen Recherchieren – beste Voraussetzungen für die spätere Erforschung von Landeskunde und Naturräumen Ostthüringens, insbesondere des Vogtlandes zwischen Gera und Greiz.

Autoren wie Volker Braun mit seinem »Training des aufrechten Ganges«, Wolfgang Hilbig und Thomas Rosenlöcher kommen hinzu – Heinz Czechowski, der »Trakl der DDR«, wie Uwe Johnson ihn nennt, wird immens wichtig; von Wulf Kirsten wird noch die Rede sein.

Schweren Herzens muss Schopplich sich vom Studienwunsch Archäologie aus Mangel an Plätzen verabschieden, von Geschichte ganz zu schweigen. Da die Mutter Stomatologin ist, er schon als Schüler in der Zahntechnik ein Taschengeld verdient, liegt Zahnmedizin nahe. Er studiert in Berlin und Dresden und geht mit seiner Lebensliebe, der Pharmazeutin Christiane Schopplich, nach Greifswald. Die Söhne Johann und Konrad werden geboren (zwei weitere seiner vier Kinder stammen aus früheren Bindungen) und –  seine Frau übernimmt die Apotheke ihrer Mutter in Gera-Bieblach –  ein Rückzugsort gesucht und gefunden, der Stille und Naturnähe verbindet: der Hof in Groitschen.

Mehlschwalben fliegen ein und aus, die Turmfalken nisten im Spitzgiebel, zwölf Zwergschafe einer uralten, robusten Rasse weiden auf der Streuobstwiese hinter der Kirche: spiralengehörnt wie Mufflons, schwarz und braun. Wir sitzen bei Baumkuchen und Kaffee.

Im Umfeld meines Besuches erreicht mich eine Fülle an Zusendungen: Prospekte, Landkarten, Bildbände, Publikationen; sie markieren die Spannweite von Sebastian Schopplichs ehrenamtlichem Engagement – in einem Maß, das schier erstaunen lässt und die »herzliche Eile« mehr als erklärt.

Wo beginnen? Beim 1825 gegründeten »Vogtländischen Altertumsforschenden Verein zu Hohenleuben«, dem zugehörigen Freundeskreis des Museums Reichenfels-Hohenleuben, dem er seit 2015 vorsteht? Es liegt oberhalb der Triebes, nördlich von Zeulenroda, im ehemaligen Gebiet der Vögte von Weida und Gera und ihrer Nachfahren, der Fürsten zu Reuß jüngerer Linie. Ein nahezu vergessener, aber kein verlorener Ort, geschichtsträchtig, von der Burgruine Reichenfels auf dem aufragenden Schlossberg geprägt.

Abgesehen von Präsentationen zur Ur- und Frühgeschichte der Region, Naturkunde, Geologie und Paläontologie beherbergt das Museum Archiv und wissenschaftliche Bibliothek des Vereins, aber auch eine überraschende Vielzahl hochkarätiger, vor allem spätgotischer Schnitzplastiken, die in dem schöngestalteten Band Von Heiligen und Himmelsboten erschlossen sind. Schopplich schreibt im Geleitwort: »Museen sind wesentliche, ja unverzichtbare Knotenpunkte im kulturellen Netz, wobei wir den Begriff der Kultur als Ausdruck der essentiell- kreativen Kraft der Gesellschaft verstehen. Als Ort der Selbstvergewisserung und Versicherung der Identität, als Brunnen der Erinnerung.«

Wieviel Enthusiasmus in das Pensum als Vorsitzender fließt, lässt sich nur ahnen  – »Wenn ich es nicht getan hätte, hätte es keiner getan.« –  jetzt mehr denn je, denn finanzielle Situation und Fortbestand des Museums sind perspektivisch völlig ungesichert. »Die ehrenamtliche Arbeit für das Museum Reichenfels-Hohenleuben ist für uns Freude und Verpflichtung zugleich, erreicht jedoch häufig den Umfang einer Teilzeitstelle«. Spendeneinwerben, Kontaktpflege, Vorbereitungen für den Druck des Jahrbuches, die Liste ist lang. Zum Glück gibt es – noch – eine Museumsleiterin und engagierte Mitstreiter. Schopplich will mit Menschen gemeinsam etwas bewegen, über die Klippen heben, wie er sagt. Ob sich das Land Thüringen und die Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten wirklich dessen bewusst sind, mit welchem Umfang und Kenntnisreichtum in der sogenannten Provinz an der Pflege und Erhaltung der einheimischen Kunst- und Kulturschätze gearbeitet wird?

Das ist längst nicht alles. Schopplich ist Mitglied im Naturschutzbeirat des Landkreises Greiz, seine Frau und er sind dort bestellte Naturschutzbeauftragte. Er hält Vorträge –  »vormittags werde ich im Rahmen einer Matinee in der Musikschule Gera den NABU-Vortrag zum Vogel des Jahres 2023, dem Braunkehlchen, halten, wie schon seit vielen Jahren« –  und schreibt Artikel; gemeinsam pflegen sie Streuobstwiesen, begutachten Naturdenkmäler und sind für gebäudebewohnende Vogelarten – Dohlen, Schleiereulen, Turmfalken – und Fledermäuse zuständig.

Sein Herzensort aber ist das mitten im thüringischen Vogtland, am Südrand von Wünschendorf gelegene Kloster Mildenfurth – das Elysium des Bildhauers Volkmar Kühn und der Papiergrafikerin Marita Kühn-Leihbecher. Es ist ein einzigartiges Ensemble: vom ehemaligen Prämostratenserkloster aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, von dem das spätromanische Rundbogenportal kündet, zum Renaissanceschlosstorso, über wechselnde

Nutzungen als Kammergut, Altenheim, Obstlager bis zum Künstlergarten und Ausstellungsgelände. Bis heute atmet dort ein besonderer Geist, eine Symbiose aus Kunst und Natur, Historie und Gegenwart, Zwiesprache und Schweigen. Das ist Kühn und seiner Frau wesentlich zu verdanken, die hier IHREN Ort geschaffen haben, der Rückzug und Gesprächsraum, Denkort und Podium zugleich ist.

Mitte der 90er Jahre kauft Sebastian Schopplich vom Skulpteur die Kleinbronze »Aufschauende« und wird schnell in den Kreis der Freunde und Förderer eingeladen. Der »Arbeitskreis Kunst und Kultur Kloster Mildenfurth«, ein Nachwendekind, gegründet »sich und anderen zur Freude«, bietet ein anspruchsvolles, in der Region singuläres Kulturprogramm: Lesungen, Konzerte, Ausstellungen, Gartenfeste, dazu die kritische Begleitung der laufenden Sanierungs- und Restaurierungsarbeiten. Schopplich wird Schriftführer, er verantwortet nicht nur Vorbereitung und Gestaltung der Lesungen, sondern als Herausgeber und Autor auch wichtige, zum Teil opulente Publikationen, Laudationes, Postkarteneditionen, darunter die großformatigen »Arbeitsbesuch«- Bände zum Werk der Kühns.

Der neue Prospekt zur Eröffnung des »Kunst-Speichers« verrät einen Wendepunkt, wird doch seit Sommer 2018 die Tätigkeit des Arbeitskreises durch die Liegenschaftseigentümerin zunehmend eingeschränkt. Bürokratismus und Sicherheitsbedenken müssen dafür herhalten, dass in der Folge die über Jahrzehnte gewachsene Einheit von Skulptur und Natur auf dem Gelände zerstört wird – ein Prozess, der für das Ehepaar Kühn trotz aller Bitterkeit in den Umbau einer benachbarten Getreidelagerhalle zum »Kunst-Speicher« mündet. Ein weiter, luftiger Raum, der den Figuren und Papierarbeiten eine Hülle bietet, in der sie atmen können, eine »Freistätte«, wie Schopplich schreibt, »nicht nur der bildenden Kunst, sondern ebenso des Denkens, des Sprechens und des menschlichen Miteinanders – fernab jeder Zensur.«

Seine anhaltende Freude und Begeisterung für das hier Entstandene, für die Menschen dieses Ortes, die Dankbarkeit für langjährige Lebensfreundschaften ist ihm anzumerken.

2004 ist es der (im Dezember 2022 verstorbene) Dichter Wulf Kirsten, der von Schopplich nach Mildenfurth eingeladen wird. Manches Mal berät Kirsten ihn nun bei der Auswahl der Autoren, würdigt die Herausgabe der erst im Verlag Ulrich Keicher, dann als Privatdrucke erscheinenden Lyrikhefte des Arbeitskreises. Beide verbindet das tiefe Geschichtsbewusstsein, die Sammlernatur, ihre Faszination für abseitige Landstriche und ihre Form- und Sprachbilder. Für den jungen Sebastian Schopplich waren damals, am Ende der Radeberger Zeit, die »sieben sätze über meine dörfer« in dem Band »die erde bei Meißen« Schlüsselmomente seiner Lesebiographie. Keine Frage, dass Kirstens Werkcorpus in der umfangreichen Hausbibliothek auf dem Groitschener Berg einen Ehrenplatz hat.

Ist es verwunderlich, dass die Schopplichs selbst Sammler sind? Archäologische Stücke, Grafiken, historische Post- und Landkarten, Skulpturen – wem diese, längst nicht abgeschlossene Sammlung einmal überantwortet wird, er hätte den ganzen Reichtum der Intentionen und Interessen des Ehepaars vor Augen. Schopplich bezieht seine Frau ausdrücklich ein, ohne deren »fortwährende Unterstützung, Kritik, Mitarbeit, Ermutigung, Geduld und Toleranz mir all das kulturelle und naturschutzfachliche Engagement nicht in diesem Maße möglich wäre.«

Es ist, als ob sich im Wirken Sebastian Schopplichs neben dem Tagwerk als Zahnmediziner der Historiker, der Archäologe in ihm Platz verschafft hätten, ob sammelnd, schützend oder

bewahrend, immer auf der Folie einer unausgesprochenen Menschenliebe, Herkunft als den Humus einer menschengemäßen, Umwelt wie Innenwelt achtenden Zukunft begreifend. Seine Quellen sind zugleich seine Passionen: die innige Verbindung zu Landschaften und ihrer Geschichte – Reichenfels, Mildenfurth, die Insel Hiddensee – Freundschaften, Begegnungen, Gespräche, Naturerkundungen. Sich in Verantwortung wissen. Verantwortung leben.

In seiner Laudatio auf Volkmar Kühn vom 21. Juni 2019 –  von Wulf Kirsten »eine Verteidigungsrede bedrohter humanitas« genannt –  ist zu lesen: »Sein Schaffen ist … ein zutiefst europäisches, der Aufklärung, der kulturellen Moderne und der unbeirrbaren Überzeugung an die Schönheit – als ästhetischem Äquivalent zu Vernunft und Humanität – –  verpflichtet. … eine vehemente Entgegnung gegen jedwede eindimensionale, kleinbürgerliche Denkungsart, gegen die dumpfe Enge, gegen die bornierte Häßlichkeit … gegen die Arroganz der Macht, gegen die vulgäre Brutalität. … es verkörpert einen weiten, allgemeinen Geist, der Selbstbezogenheiten und Egoismen überwindet und frei in seinen Entscheidungen ist.«

Es war Sebastian Schopplich wohl nicht bewusst, dass er hier seine eigenen Prämissen formuliert, die sich in schönster, sprechendster Weise in seinem Wirkungskreis spiegeln.

Wir schreiben Oktober.

„Die vier jungen Turmfalken sind längst außer Haus. Noch bettelrufen nächtens zwei junge Schleiereulen in der Scheune … In den Hecken schlagen die Zaunkönige … In herzlicher Eile! Ihr Sebastian Schopplich«


Das Zitat aus dem Gedicht „silberdistel“ erschien in Reiner Kunzes Gedichtband »auf eigene hoffnung«, S. Fischer, Frankfurt am Main 2005.

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