Einführung von Christine Hansmann zur Buchvorstellung mit Regina Scheer und ihrem Band „Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution“ im Rahmen der Weimarer Lesarten 2023 in der LiteraturEtage Weimar.
Für ihr Buch erhielt Regina Scheer den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik 2023.
Regina Scheers erster Roman „Machandel“ 2014 und „Gott wohnt im Wedding“ 2019 waren große Publikumserfolge; für „Machandel“ erhielt sie den Mara-Cassens-Preis, sowie den Ver.di-Literaturpreis. Regina Scheer kam aus der DDR -Singebewegung, war Texterin beim „Oktoberklub“ und studierte Theater- und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin. Mitarbeiten an der Literaturzeitschrift „Temperamente“, an Ausstellungen und Filmen und mehrere Bücher zur deutsch-jüdischen Geschichte schlossen sich an. Und nun: „Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution“.
Zur Vorgeschichte: Regina Scheer hat Hertha Gordon-Walcher schon als Kind ab Mitte der 50er Jahre in Berlin kennengelernt; ihr Stiefvater ist mit den Walchers befreundet, die zu Besuch kommen und ihr Bücher und kleine Geschenke mitbringen – manchmal wird sie auch in das Haus der Walchers nach Hohenschönhausen mitgenommen. Sie erinnert sich an „Tante Herthas“ leise, zuweilen harte, bittere Stimme, an „Onkel Jacobs“ dröhnendes Lachen, sie bleibt dem Ehepaar verbunden. Als Jacob Walcher 1970 stirbt – „ein verdienter Veteran der Arbeiterklasse“, wie es in den Zeitungen steht – beginnt Regina Scheer, Hertha regelmäßig aufzusuchen, zwei Jahrzehnte lang. Sie liest ihr vor, sie besprechen Politisches und Privates, Hertha diktiert ihr Briefe und fächert ihr Leben auf – es ist wie ein Vermächtnis. Regina Scheer darf nichts protokollieren, nichts auf Tonband aufnehmen, die Zeit der Konspiration sitzt tief. So sammeln sich zu Hause die Notizen.
Im Dezember 1990 stirbt Hertha Gordon- Walcher, 96jährig, desillusioniert und trotzdem ungebrochen, in ihrem Haus in Berlin; bei Regina Scheer bleibt die Zettelsammlung über 30 Jahre in den Mappen liegen – jetzt erst ist dieses Buch erschienen.
Wir tauchen mit der Protagonistin Hertha und ihrem Mann Jacob, mit dem sie der Glaube an die proletarische Revolution und fünfzig Jahre Lebensgemeinschaft verbindet, ein in die Geschichte der linkssozialistischen Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts, in das „Jahrhundert der Extreme“. Es ist ein Glaube – und das lässt sich nur schwer nachvollziehen – den nichts erschüttert: Grabenkämpfe, Ausgrenzungen, Spaltungen, zwei Parteiausschlüsse, 1928 aus der KPD und 1952 aus der SED, der stalinistische Terror, die Hardlinerpolitik in der frühen DDR und zuletzt der nach der Wende wieder zerplatzte Traum von einer neuen, anderen, menschlicheren Gesellschaft.
Was grundiert diesen Traum, was nährt ihn?
1894 in Königsberg geboren, ist Hertha Gordon mit vier Schwestern in einer warmherzigen, jüdischen Familie aufgewachsen, wo Goethe und Schiller im Bücherschrank stehen – die Eltern polieren nächtelang Bernstein, um über die Runden zu kommen. „Say a mentsch!“ gibt der Vater Isaak den Kindern auf den Weg – das bleibt das Wichtigste.
Als russische Sozialrevolutionäre 1905 auf der Flucht vor der Geheimpolizei bei der Familie Unterschlupf finden, hört Hertha zum ersten Mal von Karl Marx und seinen Ideen. Mit dem Rabbiner Hermann Vogelstein spricht sie über ihre Lektüren, über Tolstoi und Lassalle; er erzählt ihr die Geschichte vom „bitteren Brunnen von Mara“ aus dem zweiten Buch der Thora – ein Motiv, das Regina Scheer durch die ganze Biographie Hertha Gordon- Walchers ziehen lässt.
Hertha folgt ihrer Schwester Rosa mit achtzehn Jahren nach London, die Mutter gibt ihr schweren Herzens eine selbst genähte Segeltuchtasche auf den Weg. Diese Tasche, in die fast alles hineinpasst, was Hertha gehört, wandert mit ihr mit: nach London, wo sie Clara Zetkins Frauenzeitschrift „Die Gleichheit“ kennenlernt und nach Stuttgart, wo Hertha ihre Mitarbeiterin wird, ins Gefangenenlager Holzminden, 1918 nach Moskau und ein Jahr später nach Berlin, wo sie sich mit Jacob in die politische Arbeit stürzt. Und 1933, nach der Machtergreifung der Nazis, nach Paris. Erst auf dem Weg ins nächste Exil, im Mai 1940, wird die Tasche verlorengehen, in einem Thymianfeld, kurz vor der Ausreise in die USA…
„Zwei Verbindungen bin ich eingegangen im Leben. Die zur Partei und die zu Jacob. Beide waren unlösbar.“ sagt Hertha zu Regina Scheer. Aber auch enge Freundschaften sind es, die sie tragen, zu Mitstreiterinnen und Gleichgesinnten, die wie sie an ihrem Traum festhalten, durch alle Verbitterungen hindurch. Die Arbeitsfreundschaft zu Clara Zetkin, deren Vertraute, Sekretärin und Begleiterin sie ist. Die Verbindung zu dem jungen, vaterlosen Willy Brandt, den Jacob als „politischen Ziehsohn“ ansieht, auch wenn er nach 1945 andere Wege geht. Die jahrelange Freundschaft zu Bertolt Brecht und Helene Weigel, zu Elisabeth Hauptmann, Käthe Reichel und Isot Kilian. Solidarität ist keine Floskel, ein Leben lang unterstützen Hertha und Jacob andere, denen es noch schlechter geht als ihnen, auch in den schwersten Zeiten, auch später ab den 60er Jahren in der DDR, als endlich beide durch Renten abgesichert sind.
Regina Scheer ist eine akribische Chronistin, sie hat umfangreiche Briefwechsel gelesen, in Archiven geforscht und viele Äußerungen Hertha Gordon-Walchers, die wohl ein phänomenales Gedächtnis hatte, bestätigt gefunden. Entstanden ist bei aller Detailfülle ein weit aufgespanntes Panorama, eine exemplarische Geschichte von den politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts, vom Scheitern und wieder Aufstehen und von einem Lebensmut, der noch in den ausweglosesten Lagen die Oberhand behält. „Dass man überlebt hat…“ sagt Hertha, „man war oft so nahe am Abgrund…“