Taras Schewtschenko (1814-1861)

Beitrag von Christine Hansmann zu dem ukrainischen Nationaldichter Taras Schewtschenko im Rahmen von „Literatur im Flur“ im Mai 2022 in der Galerie Huber&Treff Jena.

„Kobsar“ war eine neue Welt der Poesie. Es sprudelte hervor wie eine Quelle klaren, kalten Wassers und funkelte mit einer Klarheit, Breite und Eleganz des künstlerischen Ausdrucks, die in der ukrainischen Schrift bisher nicht gekannt wurde. schreibt der Übersetzer Ivan Franko zu den 1840 erschienenen Gedichten des „Kobsar“ von Taras Schewtschenko, die ihn sogleich berühmt machten. Auch er selbst und seine weiteren Dichtungen werden fortan so bezeichnet – Schewtschenko etabliert in der Mitte des 19. Jahrhunderts die moderne ukrainische Literatursprache und formt das Nationalgefühl der Ukrainer entscheidend.

Ein Kobsar war ein blinder ukrainischer Bänkelsänger, ein Barde, der von Dorf zu Dorf zog, Psalmen, Volks- und Heldenlieder sang und sich auf der Kobsa, einem Lauteninstrument, begleitete.
Auf den jungen Taras müssen die Kobsare seiner Kindheit einen tiefen Eindruck gemacht haben. Er entstammt einer Bauerfamilie aus Kyryliwka im Gouvernement Kiev und wird am 9. Februar 1814 (jul. Kalender) als drittes von sechs Kindern in große Armut hineingeboren. Der Vater ist als leibeigener Bauer dem Gutsbesitzer Engelhardt gehörig, treibt Ackerbau, dient als Fuhrmann und Stellmacher, die Mutter arbeitet auf dem Feld. Die kümmerliche Hütte der Familie ist typisch ukrainisch: weiß getüncht, mit Strohdach, von Apfelbäumen umgeben. 35 Jahre später schreibt Schewtschenko in der Festungshaft in Orenburg das Gedicht „Schwarz stehn die Berge“, in dem die Erinnerungen aus der Kindheit aufscheinen.

Trotz der Leibeigenschaft können die Eltern erstaunlicherweise lesen und schreiben; auch der Großvater spielt eine wichtige Rolle für die Bildung des Jungen, der sich nach dem Tod beider Eltern mühsam durchschlagen muss: er zieht von Dorfkantor zu Dorfkantor, verdingt sich als Hütejunge und Dienstknabe, wird überall missachtet und geprügelt und schließlich mit 14 Jahren Hofdiener als Eigentum von Pavel Engelhardt.

Die malerische Begabung zeigt sich früh: Taras kopiert die Stiche im Gutshaus seines Herrn mit einem gestohlenen Bleistift, Engelhardt lässt ihn auspeitschen, nimmt ihn aber danach als „leibeigenen Künstler“ auf seine ausgedehnten Reisen mit. Das ist seine Chance. Taras erhält ab 1829 im litauischen Vilna Unterricht in Malerei, in St. Petersburg beginnen 1831 seine wichtigsten, auch glücklichsten Jahre: er kann bei dem Maler Schirjajew in die Lehre gehen, Russisch, Polnisch und Französisch lernen, die Theater besuchen und alles lesen, was ihm in die Hände fällt: Religionsgeschichte, Philosophie, historische Balladen, Poesie… im Petersburger Sommergarten skizziert er nachts die Statuen. Durch Iwan Soschenko wird er in die künstlerisch-literarische Gesellschaft der Stadt eingeführt, beginnt, Gedichte zu schreiben und findet Anerkennung und Freunde.

Dass er immer noch Leibeigener ist, belastet Schewtschenko schwer – die tiefe Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung zieht sich durch sein ganzes späteres literarisches Werk. Die Freunde beschließen tatsächlich, ihn loszukaufen – Engelhardt verlangt die unverschämte Summe von 2500 Rubel – und organisieren eine Lotterie mit einem Gemälde von Karl Brulljow – dem Professor, bei dem Schewtschenko in der Folge weitere Jahre an der Kunstakademie St. Petersburg studieren wird. Sogar die Zarenfamilie beteiligt sich mit 1000 Rubel, am 5. Mai 1838 ist er frei – und kann sein Glück kaum fassen.

Ab diesem Zeitpunkt steht für ihn die eigene Dichtung im Mittelpunkt; er wird mit dem Erscheinen des „Kobsar“ 1840 schnell berühmt. Von seinen ersten lyrischen Versuchen ist die Ballade „Die Behexte“ in den Kanon des „Kobsar“ eingegangen – ein Auftakt mit unverwechselbarem Ton.

Schewtschenko dichtet auf Ukrainisch – für viele Russen, die damals die zum zaristischen Russland gehörige Ukraine als rückständig betrachteten, war das Ukrainische ein „primitiver Dialekt des Russischen“ – schreibt aber, durch seinen Lebensgang mit beiden Sprachen vertraut – etliche Erzählungen, ein Drama und auch sein Tagebuch auf Russisch. Die Quelle für sein literarisches Schaffen jedoch ist die jahrhundertealte, reiche ukrainische Volksdichtung, die er als Kind aufgenommen hat und auf die er lebenslang zurückgreift. Doch es wäre naiv zu glauben, dass er nur „Dorfidyllen im Schäferstil“ geschrieben hätte. Alle, auch die scheinbar einfachen Formen, sind bewusst angelegt und durchgeformt. Er verwendet zwar den Wortschatz der Volksdichtung – Alltagssprache, gängige Bibelzitate und feststehende Beiworte wie „schwarze Brauen“, „roter Mond“, „breiter Dnjepr“. Aber Schewtschenko erfindet eigene poetische Termini: „ungewaschener Himmel“. „verschlafene Wellen“, das „klägliche Meer“; auch seine Versmaße und die Reimformen werden immer vielseitiger, je mehr sich sein geistiger und sozialer Horizont erweitern. Der Rhythmus seiner Gedichte ist von der Musik her verständlich, man sollte sie sich gesungen vorstellen!

Zahlreiche Gedichtausgaben folgen, in denen er das schwere, entbehrungsreiche Leben der ukrainischen Landbevölkerung besingt, mit unverhohlen rebellischem Unterton Ereig-nisse aus der Geschichte seines Landes beschwört und die Schönheit des Dnjepr und seiner Kindheitslandschaften preist.

1845 beendet Schewtschenko das Studium der Malerei in St. Petersburg mit zwei Silbermedaillen und dem Titel eines „freien Künstlers“. Aber es zieht ihn in die Heimat. Auf etlichen Reisen in die Ukraine besucht er seine Geschwister und den Großvater, reist nach Kiew und auf die Landgüter befreundeter Literaten. Seine Eindrücke von den Zeugnissen bäuerlicher Kultur und der unverminderten Armut auf dem Land vertiefen sich. Große epische Gedichte wie „Katarina“, „Die Haidamaken“, „Die Magd“ oder „Der Kaukasus“ greifen diese Erlebnisse auf und verbinden sich mit überaus lebendigen historischen Schilderungen.

Schewtschenko schenkt in seinen poetischen Liedern und Balladen den Ukrainern gleichsam ihre eigene Geschichte, er knüpft an den Freiheitswillen des ukrainischen Kosakentums an und prangert die Unterdrückung des sich entwickelnden ukrainischen Nationalbewusstseins durch den russischen Zaren und seine Geheimpolizei unverfroren an. Das bleibt bei Nikolaus II. nicht unbemerkt. Als Taras sich 1846 in Kiew einigen Mitgliedern einer geheimen, idealistisch-revolutionären Bruderschaft anschließt, wird er verraten und am 5. April 1847 verhaftet. Sein satirisches Gedicht „Der Traum“, das den Zaren verärgert, spielt bei der im Vergleich zu seinen Mitstreitern extremen Höhe des Strafmaßes eine entscheidende Rolle.

Er wird zu lebenslanger Haft als einfacher Soldat verurteilt und unter strenge Aufsicht gestellt, Schreiben und Malen sind ihm verboten. Der Verbannung auf die Festung Orsk am Ural folgt ab 1850 die berüchtigte Festung Nowopetrowsk am Kaspischen Meer. Was zehn Jahre Haft für diesen freien, unabhängigen Geist bedeuten, lässt sich nur erahnen. Heimlich hat er geschrieben, die Zettelchen im Stiefelschaft versteckt und hinausschmuggeln lassen. An zwei mehrmonatigen Expeditionsreisen zur Erkundung des Aralsees und in die Karpaten darf er als Zeichner teilnehmen – das hat ihn wohl seelisch gerettet. Nicht wenige Gedichte aus dieser Zeit spiegeln seine ganze Sehnsucht und Zerrissenheit.

1857 stirbt Nikolaus II. und einflussreiche Freunde erreichen Schewtschenkos Begnadigung. Am 27. März 1858 trifft er endlich in St. Petersburg ein, gesundheitlich schwer angeschlagen, aber mit ungebrochenem Geist. Er dichtet und malt unter strengster Zensur weiter, beschäftigt sich mit Radierungen und Gravuren und besucht sein Heimatdorf bei Kiew. Eine erneute Festnahme verhindert, dass er wie geplant in der ukrainischen Heimat ein Haus kaufen und sich niederlassen kann.

Taras Schewtschenko stirbt, herzkrank, am 10. März 1861 in St. Petersburg; er wird 47 Jahre alt. Eine Woche zuvor war die Leibeigenschaft in Russland aufgehoben worden. Die Anteilnahme der Bevölkerung ist riesig; zuerst auf dem Smolensker Friedhof in Petersburg beerdigt, wo Dostojewski, Nekrassow und Leskow unter den Trauergästen sind, wird Schewtschenkos Sarg zwei Monate später in die Ukraine überführt. Zehntausende Menschen säumen
den Weg nach Kaniw, wo er am Ufer des Dnjepr, so wie er es sich in seinem Gedicht „Vermächtnis“ gewünscht hat, beigesetzt wird.

Die Gedenkstätte an seinem Grabmal ist eine unter unzähligen weltweit. Um eine Vorstellung von den Ausmaßen zu haben: es gibt 1384 Schewtschenko Denkmäler und Museen in 35 Ländern, darunter in Paris, Rom, Washington, Buenos Aires; in der Ukraine allein 1256, wo außerdem 835 Straßen und Plätze und 352 Orte nach ihm benannt sind. In Kiew gibt es nicht nur das Schewtschenko Museum, auch die Oper und die bekannteste Universität des Landes tragen seinen Namen. Von seinen Bildern sind ca. 850 erhalten geblieben: Zeichnungen, Ölgemälde, Porträts, Gravuren. Unzählige Gedichte wurden vertont, u.a. von Tschaikowski, Rimski-Korsakow und Rachmaninow. Einzelne Teile seiner Dichtungen sind wieder zu Volksliedern geworden, die gesungen oder rezitiert auch in der jungen Generation der Ukraine lebendig sind. Schewtschenko ist zur Ikone geworden.

Warum Schewtschenko und sein Werk in Deutschland vergleichsweise wenig bekannt ist, bleibt schwer zu beantworten. Eine erste umfangreichere Übersetzung ins Deutsche gibt es 1911 von Julia Virgina im Xenien Verlag. Ein kommunistisches Übersetzerkollektiv mit u.a. Erich Weinert und Hedda Zinner unter der Leitung von Alfred Kurella erarbeitet vor dem zweiten Weltkrieg in der damaligen Sowjetunion eine Ausgabe des „Kobsar“, die 1951 im Verlag für fremdsprachige Literatur Moskau erscheint. Der Verlag der Nation Berlin übernimmt sie 1987 unter dem Titel „Meine Lieder, meine Träume“ – sie ist kaum in Antiquariaten zu finden. Hier harrt ein Werk der Weltliteratur einer modernen deutschen Übersetzung!