Gisela Kraft, Dichterin und Übersetzerin (1936-2010)

Christine Hansmann: sterbaufmännchen. sternenweib. Eine Annäherung an Gisela Kraft. Zum 10. Todestag am 5.1.2020.

Wie sie ins Licht holen, vor Augen stellen, sprechen lassen?

Am „Siechenbräu“ angekommen, halte ich inne, grüße Spucker und Schlucker, die hier ‒ wenn auch winters trockengelegt ‒ das Pflaster bevölkern und werfe einen Blick auf die Tafel neben der Eingangstür: Kasslerrippchen, Sauerkraut, Kartoffelbrei, 15 Euro 90. Nur der Preis ist gestiegen. Also herein. Linkerhand der Gaststube das Séparée, mit einer Zieharmonikatür verschlossen, die bei jedem Auf und Zu bedenklich vibriert. Sie soll den Lärm der Zecher dämpfen. Da sitzt sie, inmitten der Runde, aus den kleinen, tiefliegenden Augen lächelnd und ein wenig vergrätzt über die Sünde der Unpünktlichkeit, das lange, weißblonde Haar wie eine Perücke umgelegt, Schutzschirm und Mandorla zugleich. Der Rippchenteller ist Pflicht, der Rotwein ebenso. Ärztliche Gebote werden von jeher missachtet. Was willst du, Herz? Leben oder Leiden? Sie lacht. Ihre Stimme schorfig, tief. Gisela räuspert sich. Reden kommen in Gang, Weimarer Palaver, der Nabel der Welt wird betrachtet, hin und her gewendet, der und jener, so oder so, was für ein Dilemma, ein Debakel ‒ und plötzlich der helle, klirrende Ton von Metall auf Glas: Konzentriert Euch, Kinder. Schluss mit den Faxen.
Was sie aus dem Köfferchen klaubt, ist nichts weniger als das Manuskript zu „Planet Novalis.“ Um den Lebenslandschaften dieses Dichters nachzufolgen, hat sie zwanzig Jahre zuvor die deutschen Staaten gewechselt. Uns gehen die Ohren auf:

Du bist den Hang des Lebens halb hinangestiegen
Und blickst zurück: ein Rosenmeer zu Füßen,
Ein Busch, sein Holz verdeckt, die Blütenblätter liegen
Wie Wellen da, die ineinander fließen.
Das wogt und oszilliert in weiß und roten Tönen.
Dein Paradies mag keinen Meter messen,
Du tauchst ‒ wie Tote sich ans Seligsein gewöhnen
Indem sie Erdenmuß und -maß vergessen.
Doch Rosen töten nicht. Sie duften bloß.
Nicht Laub und Dornen halten deinen Leib umschlungen,
In deine Kindheit bist du heimgesprungen.
War‘s eine Gegend, die so roch, war‘s Mutters Schoß?
Ein wundersüßer Hauch vom ersten Leben
Was dich hier hält, ist deine Seele. Sie kann schweben ‒

Im fiktiven Gespräch mit Ludwig Tieck wird Novalis das Gedicht über die Rosa centifolia in den Mund gelegt, deren Duft den Dichter bis in Mutter‘s Schoß zurückholt. Merken wir uns die Wendung.

Wie ist das mit der Signatur des Anfangs? Kurz vor Ende des Jahrtausends, Nationaltheater Weimar. Es klopft, sie steht vor der Garderobentür und gratuliert zur Marguerite. Berlioz, „La damnation de Faust“. Gisela ganz in Schwarz, das breite, karmesinrote Tuch um die Schultern geworfen, ich noch im schneeweißen Kostüm, hochgeschlossen. „Katze und Derwisch“ wechselt die Besitzerin. Seit elf Jahren steht es in meinem Bücherschrank. Das Exemplar mit Widmung bekommt einen Ehrenplatz.

Souverän wandert sie darin durch die Gegenden der Weltgeschichte, verortet ihre poetischen Herkünfte, erkundet die Küsten von Kleinasien, erfindet den Katzenplaneten und widmet mit der „Anatolischen Mutter“ ein Langgedicht den Türkinnen der ersten Generation:

kybele
deren eine brust
über europa schleift
muttergöttin
mutter der menschen
meine mutter

ein berg in form eines weibes

Gisela Kraft lesen. Lesen und Wiederlesen. Eine poetische Existenz, ein Leben, ins Wort eingehängt wie in die Luft die trägt, wechselnd von West nach Ost, dem Türkischen vertraut, im Weltdorf Weimar zu Hause, Derwisch im Geiste, Novalis zum Bruder, Leila als Gefährtin. Zuschreibungen stellen sich nicht ein, wären zugemutet. Keine Lade, in die wir sie zwängen können. Bei Walter Sachs finden wir ihn, den Hermaphrodit. Auf dem Einband von „Matrix“, das in ihrem Hausverlag, der Eremitenpresse, erschienen ist. Hier eröffnet das Kraftsche Vaterunser, nein, die Gewohnheit liest falsch:

mutter unser
die du bist im ozonloch
geheiligt sei deine quote
dein bauch komme

denn du bist luft
und sanfte gewalt
für den rest der zeit…

Das nimmt uns fast den Atem. Und sie setzt fort mit der furiosen „Akte Bamberg“. Gisela residiert im Gohliser Schlösschen zu Leipzig, es ist Buchmessezeit, von Rokoko keine Rede. Die Kette mit den dicken, eisernen Gliedern in ihrer Hand schlägt sie mit jedem Anruf der im Gedicht aufgezählten, mittelalterlichen Frauenberufe auf die Tischplatte. Die Zuhörer zucken zusammen. Ihre Stimme, brüchig, kippt fast über, sie wird noch heiserer sein am Ende, denke ich, aber das ist ihr egal, denn diese Frauen, hexen im rauch, sind allesamt durch Tortur und Tod gegangen, Mütter, Schwestern, Töchter, Leidensgenossinnen. Sieh nicht fort bleibe unruhig endet das Gedicht. Wer eine solche Lesung ein Mal erlebt hat, vergisst es nicht.

Weibliche Themen? Durchaus. Schon in den geheimnisvollen, 1980 im eigenen Berliner Verlag Harran verlegten „Märchen“ erscheint die Fee Peri; Göttinnen aller Couleur durchziehen Gisela Krafts lyrischen Kosmos: angefangen bei der kleinen Infantin über die Gespielen Dame und Einhorn, die Raniser Ilse, das zarte Gesicht der Großmutter greise dame johanna leuchtet heraus, die Brosche von oberin gertrud, sappho geht übers meer, sogar weimar wird zur magd der seligen. Der Schwester Reinhild ‒ unterm kreißsaal in wehen / kamst du ans licht / tausende ahnen am werk ‒ sind vier Gedichte zum 9. Februar 1945, dem Tag des Bombenangriffs der Alliierten auf Weimar, gewidmet. Wer dem Kraftschen „Reich der Mütter“ weiter nachgehen möchte, sei auf das Kapitel Wo Asien anfängt aus den „Deutsch-deutschen Erinnerungen“ verwiesen: Kybele und Konsorten folgen mir bis auf heimischen Boden… Ich bereite ihnen ein Nest im Bewusstsein.

Das Werk aber, vielstimmiger, umfangreicher, schreibt sich nicht selbst, es ist abgerungen. Bin ich ein Klageweib? fragt sie, als der Körper einmal mehr seinen Dienst verweigert. Die Stimme zittert. Ich kann sie beruhigen: Weib ja, Klage nein. Ihren unverwüstlichen Humor verliert sie nicht. In „Dichterlesung auf dem Lande“ vermehren sich Pitschenpickler und Pickelpitschler Frauen auf wundersame Weise:


zwölf frauen plus sechsmalsechs frauen
sind mir zuliebe gefahren gekommen
ich lese ihnen mein lieper gedicht
alte frau auf dem rad, macht zusammen
mit mir runde fünfzig friedliche frauen …

Im schönen Band der Reihe „Edition Ornament“ steht es gedruckt. Das Eingangsgedicht Biographie spannt einen großen, mythengeschichtlichen Bogen, in den sie ihre eigenen Inkarnationen einbindet:

solange die erde lebt
mitdrehen

ich nicht-ich. regenstation
meßstreifen. zelle der netzhaut
des eingeborenen gottes

sterbaufmännchen. sternenweib
widerruf mich und bleib
treu den stoffen

„Aus Mutter Tonantzins Kochbuch ist eine besondere Auswahl“, 2006 zu Giselas 70. Geburtstag erschienen. In der „Madonna von Rosenthal“ begegnet uns Kybele zwischen den Urgöttinnen wieder:

… holz sind wir doch nicht aus holz
sind semele gäa kybele sind nut und isis

… stürmen die felder tausende wilde marien …

Wir ziehen weiter. Anderer Tag, anderes Licht. Auch hier klirren die Gläser. Aber sie ist erschöpft, liegt auf dem orangeroten Muster der Kissen, hat die Hände über dem Leib gekreuzt. Neben ihr die aus der Mongolei heimgekehrte, schlafende Schwester. Es gibt Fotos von diesem Abend, wie in Sepia getaucht, die Kulisse diffus. Es wird ihr letzter Geburtstag sein. Wechselnde Mienen, Gesprächsfetzen, die Vielzahl blauer Gläser und Flaschen wirft leuchtende, irisierende Punkte zurück. Auf den Holzdielen der Terrasse eine Spirale aus Steinen. Giselas Gesicht ist zugefaltet. Wo denkt sie hin?

Wenn eine Tür sich schließt, öffnet sich die andere. Das sagt sie ohne Pathos, es scheint eine Erfahrung, kein Glaube. Ich möchte sie in den Arm nehmen, halten, aber das verbieten die Rücksicht und meine Scheu. Sie sucht die Nähe und meidet sie. Die Freunde wissen das. Freundschaft ist kostbar, wird nicht aufs Spiel gesetzt. Sie war es, die wählte.

Wo sind wir gelandet? Die Schauplätze wechseln, „Resi“ und „Schwanseeschlösschen“, Kirms-Krackow-Haus, wo alles begann, open end, vom Chef thailändisch bekocht, ein Zwischenspiel im „Schwarzen Bären“, die Goethezimmer grüßen herein, zu gravitätisch, sagst du, dabei den Geheimrat im Auge, er zwinkert, du hebst dein Glas, das letzte nicht, aber die Stimme, sie glänzt jetzt und funkelt, denn Hafis ist ihm wie dir vertraut, ein Zechgenosse, ein Liebender. Und wenn wir uns von der Stadt etwas wünschen könnten, dann endlich deine Übersetzung des Hafis Ghazel auf das Denkmal am Beethovenplatz, die nicht nur überaus poetischer, sondern auch vollständiger wäre. Ob Weimar sich seiner Preisträgerin erinnert?

Um dich zu leiden ist mein Lebensweg gewesen
Fernab der Welt mit ihrem gleisnerischen Wesen
Ein vollgeschenktes Glas ein Mundschenk mondenschön
Statt geifernder Gelehrter schmeichelt meinem Wesen
Mein Geist hat zwei Narzissen Augen sich erlesen
Zwei Hyazinthenhärchen im Gesicht erlag mein Wesen
So ging das Leben hin in Hoffnung auf ein Zeichen
Zwei Brauenenden sind mein Augentrost gewesen

Wie andere den Mond betrachten voll Verlangen
Ist jene Braue meiner Blicke Mond gewesen
HAFIS, hast du gesagt, wo irrt dein schweifend Herz
In einer Lockenbiege treibt es nun sein Wesen

Zum Weiterlesen:
Gisela Kraft: Die Schlange Gedächtnis. Märchen. Berlin 1980
katze und derwisch. Gedichte. Berlin und Weimar 1989
Matrix. Gedichte. Eremitenpresse. Düsseldorf 2003
Aus Mutter Tonantzins Kochbuch. 33 Gedichte. Edition Ornament. Hrsg. Jens-Fietje Dwars. Bucha bei Jena 2006
Planet Novalis. Roman in 7 Stationen. Leipzig 2006.
Weimarer Störung. Gedichte aus dem Nachlass. Edition Muschelkalk. Hrsg. Kai Agthe Weimar 2010
Mein Land, ein anderes. Deutsch-deutsche Erinnerungen. Edition AZUR. Dresden 2013
Auf der westöstlichen Couch: Gisela Kraft. Porträt von Matthias Biskupek. MDR 9.1.2011
Unterwegs mit einem Derwisch. Erinnerungen an Gisela Kraft. Hrsg. Jens-Fietje Dwars. Bucha bei Jena 2016

Veröffentlicht in PALMBAUM 1/2020
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers!