Die „Thüringer Anthologie“ war ein Projekt des Thüringer Literaturrates e.V. mit der »Thüringer Allgemeinen«. Sie erschien wöchentlich von März 2014 bis März 2017 und stellte ein Gedicht eines Lyrikers aus Thüringen neben einen dazugehörigen Text eines anderen Autors.
Christine Hansmann
Kirschbaum
für Thomas Rosenlöcher
Und jetzt:
vollkommene Gebärden,
schwanfederweiß und schwere-
los, ein Blüten-
blätterfall, in dessen Kreis
ich stehe, angelehnt, die Rinden-
risse tief im Rücken –
es ist der Überfluss
an Licht, der mich so trunken
macht, das Überfließen
jenes Weißes
vor dem falben Weiß
des Himmels, ein Vorhang,
der sich öffnet
jenseits
meines Blicks.
Kirschblüten
Christine Hansmann-Retzlaff, 25 Jahre Opern-Sängerin am Deutschen Nationaltheater Weimar, schreibt vor allem Lyrik und lyrische Prosa und ist zudem als Sprecherin und Rezitatorin tätig. Demnächst bringt sie zusammen mit Dr. Sonja Price im Rudolstädter Schillerhaus Shakespeares Sonette zu Gehör.
Ihr Gedicht „Kirschbaum“ ist dem sächsischen Dichter Thomas Rosenlöcher gewidmet. In mehreren Gedichten bewundert auch er, genau beschreibend, die Kirschblüten. Beide berufen sich auf einen Ahnen, der ganz wesentlich die deutsche Naturlyrik geprägt hat: Bartold Hinrich Brockes (1680 – 1747). Er überschrieb ein Gedicht „Kirschblüte bei der Nacht“. „Es ist kein Schwan so weiß…“, heißt es bei ihm voller Bewunderung für diese Schönheit der Natur. Bei unserer Autorin ist von „schwanfederweiß“ die Rede. Aber während Brockes mit „betrachtenden Gemüte“ im „Schatten dieses Baumes“ geht, steht Christine Hansmann-Retzlaff inmitten des „Blütenblätterfalls“, „die Rindenrisse“ des Baums „tief im Rücken“. Sie beschreibt nicht, sondern sie ist versunken und bewegt zugleich, ja, „trunken“ von dem „Überfluss an Licht“. Die Brüche am Zeilenenden und ihr Übergang in einen doch fließenden Rhythmus belegen es. Und in dieser Stimmung versucht sie, dieses Weiß genauer zu fassen. Man kennt das ja, dieses: mir fehlen die Worte, wenn man etwas mitteilen will, was einen besonders beeindruckt. Bei Christine Hansmann-Retzlaff weitet sich schließlich am Ende des Gedichts himmelwärts der Raum.
Es ist eine schöne Welt, die sie da malt, fern von allen scharfen Konflikten oder trotz alledem. Es ist ein Plädoyer für einen Gang in die Natur, die es noch immer gibt. Vielleicht wehrt sich die Verfasserin dagegen, dass ein solch inniges Betrachten der schönen Natur nicht zeitgemäß sei. Und natürlich weiß sie, dass der Blick aufs Smartphone weit häufiger als auf fallende Blütenblätter fällt. Um so wichtiger ist dieser intime Moment, den sie im Gedicht festhält.
Martin Straub
in „Thüringer Anthologie“,
veröffentlicht auf der Webseite Literaturland Thüringen:
https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/thueringer-anthologie-nr-152-martin-straub-ueber-christine-hansmann/
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Thüringer Literaturrates e.V.