Weimarer Lesarten 2022: Annette Seemann

Einführung von Christine Hansmann anlässlich der Buchpremiere von Annette Seemann mit dem Band „Viva la vida! Frida Kahlo“ im Rahmen der Weimarer Lesarten am 1. Juni 2022 im Jugend- und Kulturzentrum mon ami.

Annette Seemann muss in Weimar nicht vorgestellt werden. Sie ist vieles gleichzeitig: Ideengeberin und Initiatorin, Netzwerkerin und Projektmanagerin, Übersetzerin und Autorin, mit Humor, Unermüdlichkeit und einem weltoffenen Geist gesegnet.

Wer möchte, erlebt ihr Weimarer Wirken ganz direkt: der Forscher- und Entdeckerraum als unkonventionellem Lernort in der Herderkirche ist ihr und ihren Mitstreitern ebenso zu verdanken wie das zehnjährige, mit dem Thüringer Kulturpreis ausgezeichnete Projekt der Weimarer Kinderbibel; Kindern und Jugendlichen einen lebendigen Zugang zu ihrer kulturellen Herkunft zu öffnen, kreative Prozesse anzustoßen, Geschichte erleb- und fühlbar zu machen, ist ihr ein Herzensanliegen.

Wir folgen der Spurensuche in die Herzogin Anna Amalia Bibliothek, deren Gesellschaft Annette Seemann seit 2004, dem Jahr des verheerenden Brandes, vorsteht. Wieviel Herzblut dieses Freundeskreises in das weltweite Sammeln von Spenden für Buchrestaurierung und Neuerwerb geflossen ist, lässt sich nur ahnen. Annette Seemann prägt mit Esprit und Elan die geistige Landschaft der Bibliothek, sie hält Vorträge, wie letzthin zu Corona Schröter oder Sophie Mereau, kümmert sich um Gesprächsreihen, Ausstellungen, Schülerseminare, knüpft internationale Kontakte und ist gemeinsam mit Dr. Laube federführend bei der Mitgliederzeitschrift „Supralibros“. Die Auszeichnung als „Bibliotheksfreundeskreis des Jahres 2020“ spricht für sich.

Kommen wir zur Literatur. Ihre Herausgeberschaften, wie zuletzt mit Stephan Dahme und Hermann Mildenberger bei dem fulminanten Band „Die andere Seite. Das Phänomen der Mehrfachbegabung in den Künsten“ belegen den künstlerischen Rang; die Übersetzungen aus dem Französischen und Italienischen verraten die studierte Romanistin. Sie promovierte 1986 in ihrer Geburtsstadt Frankfurt am Main zum Doktor der Philosophie mit dem Thema „Merlin – Prophet und Zauberer“ und begann mit drei Stücken von Carlo Gozzi ihre Übersetzertätigkeit, die sich später u.a. mit „Der Rhein“ von Victor Hugo fortsetzte; nach zehn Jahren als freie Publizistin, vor allem für das Magazin der FAZ, folgte der Wechsel aus dem Frankfurter Großstadtbiotop in das Weltdorf Weimar.

Der zusammen mit Wulf Kirsten 2013 edierte Band „Der gefesselte Wald. Gedichte aus Buchenwald“ offenbart eine weitere Facette: ihre Nachdichtungen aus dem Französischen insbesondere die des französischen Dichters, Herausgebers und ehemaligen Häftlings André Verdet, spiegeln die ganze Tragik der Vorlagen in ebenso adäquater wie bewegender Weise.

Die Liste der Publikationen Annette Seemanns ist lang; der Roman „Das falsche Kind“ eröffnet, 1998 bei Piper erschienen, den Reigen. Zwei Hauptlinien lassen sich ausmachen: die Kulturgeschichte Weimars, der Stadt, in der sie seit 2002 lebt, und deren vielstimmigen, widersprüchlichen Kosmos sie immer wieder literarisch umkreist und die Lebensgeschichten von Frauenpersönlichkeiten. Gleich ihr zweites Buch 1999 ist Gala Dali, Salvador Dalis Muse, gewidmet; es folgen Biographien zu Peggy Guggenheim, zu Schillers Schwester Christophine, Anna Amalia, Gabriele Reuter und Christiane von Goethe; in dem Band „Sinnlichkeit und Eigensinn“ fasst sie eine Reihe außergewöhnlicher Frauenleben zusammen; auch Frida Kahlo ist hier schon vertreten.

Was sind die Bedingungen weiblicher Kreativität? In welchem Spannungsfeld standen Frauen, die sich künstlerisch ausdrücken wollten, im Laufe der letzten 250 Jahre, angefangen bei patriarchalen Rollenzuschreibungen über den kräftezehrenden Alltag in Ehe und Familie bis zur Degradierung als männliches Eigentum, dem eigene geistige Freiheit nicht oder nur begrenzt zusteht? Welchen Preis haben Frauen bezahlt, die unabhängig genug waren, um ein selbstbestimmtes Künstlerinnenleben zu wagen?

Wir sind bei Frida Kahlo. Mit ihr hat sich Annette Seemann mehrfach beschäftigt; 2002 erschien „Ich habe mich in eine Heilige verwandelt“ im List-Verlag – eine erste Monographie. Wozu brauche ich Füße, wenn ich Flügel habe, sagte Kahlo selbst. Ihr malerisches Werk war einem überaus schmerzvollen Leben abgerungen; kaum jemand hat in zahllosen Gemälden, auf denen die Farben förmlich explodieren, die eigene Persönlichkeit, eigenes Lieben und Leiden, so zum künstlerischen Mittelpunkt gemacht wie sie; kaum eine Künstlerin ist dafür so bewundert worden – eine Faszination, die anhält.

Seit 2004 gibt es mit der Öffnung privater Archive neue Erkenntnisse zu Frida Kahlos Leben und Werk – ein Anlass für Annette Seemann, in Absprache mit der Verlegerin, erneut zur Lebensgeschichte Kahlos zu forschen. Die im letzten Jahr bei ebersbach & simon in Berlin erschienene Biographie greift damit erstmals auf entscheidende Dokumente und Materialien zurück. Exemplarisch sind Wiedergaben einzelner Bilder, die Lebensstationen und Lebensthemen Frida Kahlos markieren, dem schön gestalteten Band beigefügt. Viva la vida! – Es lebe das Leben!