Christine Hansmann hatte das Glück, von 1989 bis 2012 als Mezzosopranistin viele Rollen ihres Faches auf der Bühne des Deutschen Nationaltheaters in Weimar und auf bedeutenden Bühnen im In-und Ausland singen zu dürfen. Wer ihren hoch liegenden, schlank geführten Mezzosopran einmal in Partien von Mozart, Wagner und Strauss gehört hat, dem hat sich ihre Stimme fest eingeprägt. Nur wenigen Opernsängerinnen ist es gegeben, neben einer Gesangsstimme auch über eine klangvolle Sprechstimme zu verfügen. Christine Hansmann gestaltet seit 2012 mit ihrer ausdrucksstarken Sprechstimme literarische und literarisch-musikalische Programme. Und sie begann Lyrik und lyrische Prosa zu schreiben. Flucht ins Gelände (2012), Dunkelkammer (2013) und Des Lichtes und der Schönheit halber (2017) vereinen Gedichte und lyrisch getönte Texte. Nun ist mit Wolkenkassiber ihr neuer Band in der Weißen Reihe des quartus-Verlags erschienen. Das Besondere ist, dass die Gedichte und kurzen Prosastücke mit fünf Zeichnungen des 1931 geborenen Grafikers, Malers und Filmemachers Strawalde kombiniert sind. Die filigranen, fein gewobenen, auf das Notwendige reduzierten Verse Christine Hansmanns finden ihre Entsprechung in der Natürlichkeit und dem Schwung der gezeichneten Linien Strawaldes. Das dem Band vorangestellte Motto Hölderlins Je mehr Äußerung, desto stiller. Je stiller, desto mehr Äußerung umspannt sowohl ihre Gedichte und lyrische Prosa als auch Inhalt und Form der Zeichnungen Strawaldes.
Der Band beginnt mit einem Solitär Auferstehung. Ihm folgen acht Gedichtgruppen, die mit Peripherie, Interstellar, Sotto Voce, Pneuma, Transformatio, Felderwärts, Retour und Übergang betitelt sind. Zwischen die acht Gedichtgruppen sind die Intermezzi I-III eingeschoben. Die in den Intermezzi I-III versammelten Texte entziehen sich einer Klassifizierung. Es sind Beobachtungen, die sich mit Reflexionen verbinden. Meist sind es Erscheinungen der Natur und Pflanzenwelt, die auf Spaziergängen aufmerksam betrachtet werden. Dieses aufmerksame Betrachten oder „Erschauen“ liegt als Methode auch den Gedichten zugrunde; nur sind die Gedichte rhythmisiert, sprachlich geformt und auf das Elementare reduziert, während die in den Intermezzi gebündelten Texte eher „naturbelassen“ und „ungeschliffen“ wirken. Sie sind, wenn auch nicht weniger wertvoll, so etwas wie „lyrisches Rohmaterial“.
Auch kleine Dinge können uns entzücken. So beginnt das erste Lied in Hugo Wolfs Italienischem Liederbuch. Etwas wie Freude über die kleinen Dinge des Lebens findet sich auch in Christine Hansmanns Gedichten; doch die Lyrikerin ist zugleich die Entdeckerin kleiner Dinge in der natürlichen Umwelt und im menschlichen Leben. Sie vergrößert sie nicht, aber sie bringt uns das oft Unbeachtete nahe, erschaut dessen Wichtigkeit für uns und stiftet eine Verwandtschaft zwischen der „Pflanzenseele“ und der menschlichen Seele, wie in den Gedichten Schönberg, Auferstehung, Transformatio und Pneuma. Christine Hansmann versucht die Trennung von „Gegenstand und Substanz“ (Emanuel Coccia) der Pflanzen aufzuheben und versteht sich ihnen gegenüber als „Mitlebende“. Vielleicht enthält das vierteilige Gedicht Pneuma die Poetik des schmalen Bandes Wolkenkassiber Die Dichterin sieht sich mit dem Blick der Elemente gleichsam von „außen“ und erinnert ihr Gespräch mit der Linde gegenüber/als wäre sie eine Seele, erzählt von der Membran, der hauchdünnen, die sie trennt von den Räumen dieser Welt, und sie imaginiert, wie es sein wird, sich von der Welt zu lösen. Nur ich und ein Hauch.
Vielleicht hat uns die Corona-Pandemie dafür sensibilisiert, wie lebenswichtig, wie elementar der Atem für uns ist, für unsere Existenz, für das Leben, Sprechen, Empfinden und unser Verhältnis zur Natur. Für Thomas Brasch war das Einatmen und Ausatmen Bedingung jeglichen Erzählens. Christine Hansmanns schmaler Band Wolkenkassiber zeigt, wie Einatmen und Ausatmen zugleich Voraussetzung und formbildendes Element ihres lyrischen Sprechens ist. So hat sie zu einer lyrischen Sprache gefunden, die im Einklang mit sich selbst und ihrer natürlichen Umwelt lebt. Strawaldes 2020 entstandene filigrane, phantastische Zeichnungen, die an Muster der Pflanzenwelt erinnern, stehen in Einklang mit und Spannung zu Christine Hansmanns Gedichten, die wieder und wieder zu lesen sich lohnt.
Dr. Dietmar Ebert
in PALMBAUM 2/2022 und „Ort der Augen“ 4/2022
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Herausgeber