„auf wortwurzeln fasse ich fuß“ – Über den Dichter Wulf Kirsten (1934-2022).

Eine Würdigung anlässlich der XX. Weimarer Lyriknacht am 10. November 2023 im Stellwerk Theater Weimar

Der Tag geht davon wie ein alter König,
Seiner Krone beraubt
Durch fremde Barbaren
Allein, auf dem Weg ins Exil
Wendet er sich am Waldrand um,
Wo die Landesgrenze
Schon unter seinen Schritten gelöscht ist..

Die Nacht kehrt arm zurück…

Der Morgen sieht aus wie ein Waisenkind.

Dies sind, wie sich unschwer ahnen lässt, keine Verse von Wulf Kirsten. Sie gehören, geschrieben von André Verdet, in den Band „Der gefesselte Wald“ mit Gedichten von Häftlingen des Konzentrationslagers Buchenwald. Eine späte, sehr späte Wiedergutmachung, war doch die von Verdet zusammengestellte Anthologie schon 1946 in Frankreich erschienen, aber nie ins Deutsche übertragen worden. Annette Seemann als Übersetzerin und Wulf Kirsten ist es zu verdanken, dass dieses Buch seit 2003 bei Wallstein vorliegt. Verdet schreibt in seiner Einleitung von August 1945, vier Monate nach der Befreiung: „Trotz der Hölle auf Erden haben Menschen hier gedacht, nicht literarisch gedacht, aber human. Und sie dachten, dass irgendwo außerhalb… die Welt noch sehr viel an Güte und Schönheit bereithält…. Handeln im Dienste des Guten und des Lichts ist eine der echten Formen wahrer Poesie.“ Das Kirstensche Nachwort heißt „Dichten, um zu überleben“: „Schreiben im Konzentrationslager war streng verboten und wurde in der Regel mit dem Strang bestraft. Man traf sich abends im Waschraum oder auf der Latrine. Die Häftlinge wurden ermutigt, zu schreiben, zu zeichnen oder zu komponieren. Da es äußerst schwierig und gefährlich war, an Papier zu kommen, wurden leere Zementsäcke zurechtgeschnitten oder gebrauchte Zielscheiben der SS benutzt. So entstanden drei Exemplare der Anthologie. – Poésie du survivre.“

Der Ettersberg, dessen Glockenturm Wulf Kirsten von seinem Weimarer Arbeitszimmer aus sehen kann, bietet ein Blickfeld, das ihn nie loslässt. Der großformatige Band „Der Berg über der Stadt“, den er zusammen mit dem Fotografen Harald Wenzel-Orf herausbringt, zeichnet die Beziehung Kirstens zu einem Berg und dessen bitterer Geschichte, der ebenso wie die Stadt Weimar für die „unheimliche Nähe zwischen klassischer Kultur und moderner Barbarei“ steht, von der Jorge Semprun gesprochen hat.

Kirsten – ein „entschlossener Landgänger“, wie er sich selbst nennt – ist nicht nur häufig im Stadtbild Weimars, auf dem Weg in sein „Wohnzimmer“, den Lesesaal der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek, anzutreffen, sondern erkundet auch das Thüringer Umland auf ausgedehnten Wanderungen. Seine Entdeckungen – ob Hoher Berg, Bärenhügel – am bärenhügel… lief im radgeleise mein sommertag – Rheinstädter Grund oder die Gleichberge bei Römhild – hat er mit Freunden geteilt und dem lyrischen Text anverwandelt.

jetzt ausmessen das land im frühschein…
ich nehms unter die füße und seh:
die fahne der feldherrn weht grün.

Diese Landgänge sind ihm frühe Gewohnheit. In dem Band „die erde bei meißen“ wird seine Kindheitslandschaft sichtbar, die Elbhöhen zwischen Dresden und Meißen, ein Arme-Leute-Winkel – seine raue, rissige erde nehm ich ins wort. – im Rittergutdorf Klipphausen wird er 1934 als Sohn eines Steinmetzen geboren.

Die wäldische kindheit
im winkel der häusler,
schlicht wie ein kalkbrennerleben,
barfuß über distel und strunk.

Er verbringt Kindheit und Jugend in einem Landstrich, der ein lebenslanger Fundus für seine literarische Arbeit werden sollte.

ans licht bringen
die biografien aller sagbaren dinge
eines erdstrichs zwischenein

inständig benennen: die leute vom dorf,
ihre ausdauer, ihre werktagsgeduld…

Der junge Wulf Kirsten entschließt sich zu einer kaufmännischen Lehre und arbeitet als Buchhalter und Bauarbeiter – Tätigkeiten, die seinen Bildungs- und Lesehunger schwerlich befriedigen können. Anfang der 60er Jahre – da ist an eigene Lyrik noch kaum zu denken – geht Kirsten für das Abitur an die Arbeiter- und Bauernfakultät nach Leipzig und studiert an der Universität Deutsch und Russisch auf Lehramt. Diese Jahre, die ihn mehr in der Deutschen Bibliothek als im Hörsaal sehen, grundieren den enormen Umfang seiner literarischen Bildung – „damals, als ich in meiner Lebensnot und Lesewut alles Gedruckte unersättlich in mich hineinstopfte“.

Durch die Mitarbeit am „Wörterbuch der obersächsischen Mundarten“ wird er zudem zum „Ausgraben“ vergessener, verlorener Wörter seiner meißnischen Lebenswelt angeregt, die er fortan in „Fundbüchern“ sammelt – ein Reservoir, das später in seine Gedichte, in eigene Wortschöpfungen einfließt.

staubertaubter schotterschnörkel, entblätterte runkelprovinz, glastig, dörnicht, ärmlingsäcker, struppicht, schneegeplöd – die Liste ließe sich beliebig lang fortsetzen…

Nach einem kurzen Intermezzo als Lehrer kommt Kirsten 1965 als Lektor des Aufbau-Verlages nach Weimar – ein Amt, das er 22 Jahre mit Leidenschaft und einer gehörigen Portion Mutwillen ausfüllt – wenn es darum geht, Druckgenehmigungen zu ergattern oder unliebsame Autoren unterzubringen – das Widerständige, Unbotmäßige – der fluß der glorreichen zeit / rinnt ätzend durch die kehle – zieht sich durch seine ganze Biographie. Wen wundert es, dass er sich später, in der Wende im „Neuen Forum“ engagiert – sich aber bald aus der zermürbenden Arbeit als Stadtverordneter ernüchtert zurückzieht.

Als Herausgeber setzt er drei dicke Bände „Deutschsprachige Erzählungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ durch, ediert wichtige Lyrik-Anthologien wie „Don Juan überm Sund“; nach der Wendezeit initiiert er mit „Eintragung ins Grundbuch“ eine erste Auswahl zum Thema „Thüringen im Gedicht“, 2004 von dem Band „Umkränzt von grünen Hügeln“ ergänzt. Er begründet die „Thüringen Bibliothek“, die nach zehn Jahren in die von der Literarischen Gesellschaft Thüringen herausgegebene Reihe „Edition Muschelkalk“ – in diesem Jahr mit Band 55! – mündet – eine „literarische Landeskunde“ par excellence.

Wulf Kirsten ist – in seiner Rolle als Mentor unzähliger angehender Dichter und Dichterinnen – ein genauer, unbestechlicher Leser; er ermutigt, kritisiert und setzt Maßstäbe. In Weimar ist er über Jahrzehnte als streitbarer Geist, als Initiator und Impulsgeber aus der geistig-kulturellen Landschaft der Stadt nicht wegzudenken.

Er ist nicht nur ein exzellenter Kenner literarischer Vorgänger, sondern auch ein akribischer Sammler vergessener Literaten und ihrer Lebensläufe – sein lexikalisches Gedächtnis ist legendär. Er sammelt Orts,- Flur- und Pflanzennamen, Geschichten von Randgängern und Außenseitern, die Historien ganzer Landstriche und ihrer Bewohner – poetisches Material. im handgepäck / die kleinen wortrechte, / ausgesiedelte lebengeschichten…

Und sein eigenes Werk? Nach den ersten, ernsthaften Schreibversuchen kann Kirsten ab Mitte der 60er Jahre in Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlichen; in der Reihe „Poesiealbum“ erscheint 1968 das Heft Nr.4 mit seinen frühen Gedichten. Der Gedichtband „satzanfang“ von 1970 findet beiderseits der Grenze schnell Beachtung und zieht weitere Bände nach sich; „die erde bei meißen“ bildet 1986 eine erste Zäsur, ein Resümee, mit dem von nun an sowohl sein Rang als auch sein poetologischer Standpunkt als „Landschafter“ markiert sind und für den er ein Jahr später den Peter-Huchel Preis erhält.

an der wetterscheide, wo im juli die gewitterbäume sömmern
steh ich breitspurig auf der landschaft widerrist.
die flußorgeln durchbrummen das bauerngebreit…

die grasigen senken von rindern gefleckt.
am hellichten tag zur saatzeit im hügelland
ich – auf der erde bei meißen.

Ab 1993 nimmt der Zürcher Ammann Verlag Kirsten als Autor auf; die Bände „stimmenschotter“ und „wettersturz“ erscheinen hier, aber auch der Prosaband „Die Prinzessinnen im Krautgarten“. Wer sich über eine wirklichkeitsgesättigte Prosa den Kirstenschen Kindheitsweltsichten nähern möchte, dem seien „Die Prinzessinnen“ unbedingt ans Herz gelegt.

Zwei Jungen laufen auf der kleinen Triebisch. Der kurvenreiche Eisweg durch verschneite Wiesen scheint niemals zu enden. Zwei immer kleiner werdende Punkte, die in einem Raum von grenzenloser Tiefe verschwinden. Der Erinnerung kommt es so vor, als habe an jenem Dezembertag im letzten Kriegswinter die Zeit den Atem angehalten für zwei Zehnjährige. Einer von beiden muß ich gewesen sein.

Kirsten als Naturdichter zu begreifen, wäre zu kurz gedacht. Seine Lyrik ist immer, bei allem Stoff aus Landstrich und Kolorit der Herkunft, weltläufig, fern jeder Sentimentalität. Er zielt auf größere Zusammenhänge, verortet Lebensgeschichte in Weltgeschichte und sieht sich eingebettet in die Zunft derjenigen, die sich in Werk oder Leben dem gängigen Kanon verweigert haben: Peter Huchel, Bobrowski, Johann Christian Günter, die Droste, Kleist… Es ist der schwäbische Bauerndichter Christian Wagner, zu dem Wulf Kirsten in einem Vorwort schreibt: „Er ist ein Spracharbeiter, der sich nicht in selbstverliebten Manierismen verliert oder mit gekünstelten Rückgriffen tändelt… Gerade im Kleinen, Unscheinbaren, vermeintlich Nebensächlichen entdeckt er für seine Poesie das, was ihr Substanz und das Originäre gibt.“ Ein Bruder im Geiste…

Kirsten hat sich immer wieder zu seiner Poetik geäußert, er hat die „Steinmetzarbeit der Poesie“ auch als Handwerk verstanden, als Sprachhandwerk: „Worte schichten, als wären sie gespellte Scheite, mit Stilschichten hantieren, diese dabei gegeneinander so verschieben…, dass eine neue Mischung entsteht, die in poetischer Rede aufgehen will… ein neuer Kontext, erstbeschaffen: Textur.“ Wichtige Essays sind in „Textur. Reden und Aufsätze“ zusammengefasst; „Landschaft als literarischer Text“ vereint die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Friedrich Schiller Universität Jena 2003 mit einem vielstimmigen Rückblick auf das Werk.

Wulf Kirsten ist vielfach übersetzt worden, vor allem ins Italienische und Französische, letzteres durch seinen Freund, den Literaturwissenschaftler Stephane Michaud, dessen bewegende Rede am 21. Juni diesen Jahres, als in der Anna-Amalia-Bibliothek der Band „Nachtfahrt – Autobiographische Schriften aus dem Nachlass“ vorgestellt wurde, noch nachklingt.

Und – man möchte fast sagen – „natürlich“, ist der Dichter mit allen großen literarischen Preisen, die die damalige DDR und später die Bundesrepublik zu vergeben haben, geehrt worden, ob Heinrich-Mann-Preis, Eichendorff-Literaturpreis, Joseph-Breitbach-Preis… 2015 erhält er noch den Thüringer Literaturpreis, für den er selbst sechs Jahre zuvor als Initiator fungiert hatte.

Ein weiteres großes Fazit, eine Fundgrube, ist „erdlebenbilder“ von 2004. Hier begegnet man der ganzen Fülle Kirstenscher Wortschöpfungen, seinen Weltbezügen, seinem poetischen Kosmos in „Gedichten aus fünfzig Jahren“.

herz, erhebe dich, nichtwärts zur nacht!
die sonne ist schon aus dem sattel gerutscht…

o pfennigkraut, o hundstod!
es lebe runk und strunk! zuseiten
traktorenpisten, vielspurig. hier fällt es
dich an, das lange gesuchte wort jahralten
wachtraums, unaussprechlich –

winddurchblasene. brandfleckige, winterlägige,
schabenfressige, gluchzende, sterbliche
heimat der lippenblütler.

Auf seine opulente Sammlung „Beständig ist das leicht Verletzliche. Gedichte in deutscher Sprache von Nietzsche bis Celan.“ hat er lange hingearbeitet – es die letzte Großtat des Zürcher Ammann Verlages vor seiner Auflösung im Jahr 2010.

Dass mit „fliehende ansicht“ und „erdanziehung“ immer noch weitere, jetzt bei Fischer erscheinende Gedichtbände folgen – wie zart, wie filigran / dieser grundton der erde – zeigt einmal mehr, wie produktiv, eigenwillig denkend, sich an den kulturunwürdigen Zuständen unserer Gegenwart reibend – es war als hätt der himmel / die menschheit endgelagert – er trotz zunehmender gesundheitlicher Einschränkungen bis zum Schluss geblieben ist. Wulf Kirsten stirbt am 22. Dezember 2022 in Bad Berka bei Weimar. Er wird 88 Jahre alt.

Wer ihn in Weimar suchte, fand ihn – wenn nicht in der Anna Amalia Bibliothek – in Herders Garten hinter der Stadtkirche – schwer zu finden / grüne insel stadtinmitten. Dort, auf einer der weißen Bänke, zwischen Apfelspalier und Staudenrabatte, mag er noch immer sitzen, wie am ende aller tage und sich fragen: weiß ich wirklich, wer ich war / wie mir geschah? Wie die irrwitzigen zeitläufte / durchgestanden? Was hab ich vollbracht? … mit geschichten / haushoch beladen… wer war denn ich?

Wir könnten uns neben ihn setzen. „die erde bei meißen“ aus der Tasche ziehen. Anfangen zu lesen: ich meine freunde, wir gehen, wir reden, immer ein menschliches wort.

Und wissen: er fehlt.

Weimar, November 2023, Christine Hansmann